Mittwoch, 3. Dezember 2025

Ein System - das den Menschen aus den Augen verloren hat

Deutschland steht vor einem Problem, das nicht nur strukturell,
sondern tief kulturell verankert ist. 

Es betrifft die Art, wie Verwaltung, Bürokratie und politische Entscheidungen miteinander verwoben sind zu einem Geflecht, das den Alltag der Menschen durchdringt – insbesondere dort, wo sie am verletzlichsten sind. Die eigentlich kleinen Dinge, jene Details, mit denen Bürgerinnen und Bürger täglich konfrontiert werden, wurden im Lauf der Zeit in eine „Governance“ gegossen, die mehr Last als Ordnung darstellt. Aus Regelung wurde Überregulierung, aus Orientierung eine Art von technokratischer Überforderung.

Das zentrale Paradox: Gerade denjenigen, die ohnehin wenig haben, wird der größte Präzisionsdruck auferlegt. Im Bereich des Bürgergelds etwa wird in Centbeträgen gerechnet, als ginge es um die Feinjustierung eines milliardenschweren Konzerns. Ein kleines Fehlverhalten, ein vergessener Termin, eine unachtsame Meldung – all das kann bereits existenzielle Sanktionen auslösen. 

Menschen, die sich in schwierigen Lebenslagen befinden,
die oft mit Chaos, Krankheit, Angst oder struktureller Benachteiligung kämpfen,
werden durch diese Maschinerie noch weiter zermürbt. 

Und genau das, was das System ihnen selbst aufzwingt – Orientierungslosigkeit, Überforderung, das Gefühl, nichts mehr „geregelt“ zu bekommen – wird anschließend moralisch gegen sie verwendet. Es entsteht ein Kreislauf der Schuldzuweisung, der Menschen stigmatisiert, entmutigt und alle Möglichkeiten entzieht.

Im Großen jedoch herrscht eine andere Logik. Dort, wo es um Millionen und Milliarden geht, wo Fehler oder Vergehen das Gemeinwesen wirklich erschüttern könnten, verschwinden Verantwortlichkeiten im Nebel. Große Finanzskandale enden oft ohne nennenswerte Konsequenzen. Behörden, die zu genau hinsehen wollen, werden ausgebremst oder verlieren Personal. Was im Kleinen pedantisch verfolgt wird, wird im Großen als „systemrelevant“ unter den Teppich gekehrt. Die Asymmetrie könnte kaum größer sein: Während digitale Überwachungssysteme installiert werden, um jeden 5-Euro-Vorteil im Alltag der Bedürftigsten zu sanktionieren, bleibt der Milliardenbereich ein Terrain, in dem diffuse Zuständigkeiten und politisches Desinteresse Realitäten schaffen.

Diese strukturelle Schieflage ist mehr als nur ein verwaltungstechnisches Problem. Sie ist Ausdruck eines kulturellen Verlusts: des Verlusts eines menschenzentrierten Denkens. Das Ideal, Verwaltung solle den Bürgern dienen, wurde ersetzt durch eine Logik, in der Bürger zu Objekten, zu Risiken, zu zu überwachenden Einheiten werden. Man begegnet ihnen mit Misstrauen, während man großen Akteuren mit Wohlwollen und Nachsicht begegnet, als seien ihre Fehler weniger moralisch oder weniger zerstörerisch.

Ein System, das Menschen an seiner Basis bricht,
bricht am Ende sich selbst.
 

Gerade jene, die heute von übermächtigen Strukturen profitieren oder sich mit Milliarden begünstigt fühlen, sitzen letztlich auf demselben bröckelnden Fundament. Eine Gesellschaft kann nicht stabil bleiben, wenn sie Gerechtigkeit nur nach oben relativiert und nach unten maximal durchsetzt. Die Schieflage wird irgendwann auch jene erfassen, die sich jetzt im Schutz der wirtschaftlichen und politischen Macht wähnen.

Wenn wir diesen Trend nicht erkennen und korrigieren,
verlieren wir nicht nur Gerechtigkeit,
sondern auch Menschlichkeit, Vertrauen
und den inneren Zusammenhalt. 

Die Verhältnismäßigkeit muss zurückkehren: im Handeln der Behörden, in der politischen Gestaltung, in den moralischen Maßstäben, die wir anwenden. Der Mensch muss wieder Ausgangspunkt und Zielpunkt sein – nicht eine abstrakte Governance, die nur noch sich selbst verwaltet.

Die Krise liegt nicht im Mangel an Regeln, sondern im Verlust des Maßes. Und Maß entsteht erst dort, wo man wieder hinsieht: auf die Lebensrealitäten der Menschen, auf das Verhältnis von Verantwortung und Macht, auf die Frage, was eine gerechte Gesellschaft im Kern zusammenhält. Solange wir das nicht tun, geraten wir weiter aus den Fugen – und reißen jene mit, die glauben, unerschütterlich über allem zu stehen.

2025-12-03

Montag, 1. Dezember 2025

Gewalt ist keine Lösung

Die Einteilung in „rechts“ und „links“ — wie wir sie politisch verstehen — wurzelt historisch in der Zeit der Französischen Revolution. Damals setzten sich in der Nationalversammlung die Anhänger von radikalen, revolutionären Ideen links an, während eher konservative, monarchistisch oder traditionalistisch orientierte Kräfte rechts saßen. Seitdem prägte dieses Schema das Verständnis politischer Orientierung

links“ bedeutete in der Regel Reform, Fortschritt, soziale Gerechtigkeit

rechts“ stand oft für Bewahrung, Ordnung, Hierarchie

Doch die Welt hat sich gewandelt. Gesellschaften sind komplexer geworden, politische Themen vielfältiger — die alten Begriffe reichen oft nicht mehr aus, um die tatsächlichen Haltungen und Dynamiken abzubilden.

Heute stellt sich die Frage: Spiegelt das Schema „rechts vs. links“ noch die Wirklichkeit? Man könnte argumentieren, dass es zunehmend unzureichend ist — weil viele politische Strömungen, Haltungen und Überzeugungen sich nicht mehr klar diesem traditionellen Raster zuordnen lassen. Stattdessen kann eine neue, vielleicht sinnvollere Einteilung lauten: „sozial und dem Leben zugewandt“ versus „asozial oder dem Leben abgewandt“; oder „demokratiezugewandt“ versus „gegen demokratische Prinzipien“. Diese Neuverortung versucht, moralisch-politische Dimensionen und Grundhaltungen in den Vordergrund zu stellen, statt alte ideologische Kategorien, die zunehmend verschwimmen.

Ein sehr konkretes aktuelles Beispiel dafür liefert das, was sich gestern in Gießen ereignet hat: Im Zusammenhang mit der Gründung der neuen Jugendorganisation der Alternative für Deutschland (AfD) kam es zu Massendemonstrationen und teils gewalttätigen Ausschreitungen. Laut Berichten nahmen etwa 25.000 Personen an Protesten teil — die Polizei spricht von überwiegend friedlichen Demonstrationen, es gab jedoch vereinzelt erhebliche Krawalle mit Stein- und Flaschenwürfen sowie pyrotechnischen Gegenständen. Einsatzkräfte setzten Pfefferspray und Polizeistöcke ein. Vgl. Gießener Allgemeine Zeitung Pfalz-Express  - - Giessener Anzeiger  
Auf der anderen Seite werfen Demonstrierenden dem Polizeieinsatz „massive“ und „willkürliche Gewalt“ vor. FR.de Dieses Ereignis zeigt eindrücklich, wie schmal der Grat geworden ist zwischen politischem Protest, legitimen demokratischen Ausdrucksformen — und dem Abrutschen in Gewalt, Konfrontation, Radikalisierung.

In diesem Zusammenhang gilt: 

Gewalt ist keine Lösung — nie und niemals

Physische Gewalt verhindert Verständigung, sie zerstört Dialog statt ihn möglich zu machen. (Verhinderung statt Ermöglichung). 

Aber genauso gilt das für strukturelle oder politische Gewalt — also die Gewalt, die durchs gesellschaftliche System, durch Ausgrenzung, Diskriminierung, Ungleichheit oder Machtmissbrauch entsteht. Auch sie ist nicht akzeptabel: Sie verletzt Menschen, sie untergräbt das Vertrauen, sie verhindert echte Lösungen. 

Gewalt — in welcher Form auch immer — ist nirgends und niemals eine Lösung.

Echte Lösungen findet man nur dort, wo Menschen demokratisch miteinander im Austausch sind, wo gegenseitige Achtung und Respekt herrschen — auch gegenüber politischen Gegner*innen. Es braucht Räume des Gesprächs, der Debatte, des Zuhörens. Dort kann Vertrauen entstehen; dort kann Demokratie leben; dort kann Wandel im besten Sinne — stattfinden.

Leider scheint dieser Respekt
— gerade von manchen Politikerinnen und Politikern
gegenüber dem Volk —
verloren gegangen zu sein. 

Besonders auffällig finde ich das bei Parteien, die traditionell rechts eingeordnet werden: Bei der AfD, aber bedauerlicherweise auch bei Teilen der Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU). 

Wenn politische Führung ihre Legitimität nicht mehr
im Dialog mit der Bevölkerung sucht, 
sondern in Macht, in Polarisierung,
in Provokation — dann hat das
demokratische Prinzip Schaden genommen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Was tun in einer politischen Welt, in der etwa eine grüne Partei — oder irgendeine andere — manchen als „zu extremistisch rechts“ erscheint? Wenn das alte Links-Rechts-Schema nicht mehr greift, dann hilft vielleicht die neue Wahrnehmung: Man kann fragen: Ist diese Partei — oder diese politische Richtung — dem Leben zugewandt? Achtet sie auf Menschen, auf Gemeinschaft, auf demokratische Werte? Oder verfolgt sie Ziele, die spalten, ausschließen, Macht über Mitgefühl stellen? Solche Fragen — ethisch, menschlich, reflektiert — sind meist passender als sture ideologische Labels.

Dabei muss klargestellt werden:
Demokratie ist nicht perfekt
— sie ist das, was wir haben,
und das Beste, was real
als Staatsform umsetzbar ist

Alles andere — autoritäre Systeme, Diktaturen oder extreme Ideologien — treiben die Gesellschaft in Radikalismus und letztlich in faschistische Gewalt. Und das sollten wir als Menschen niemals wollen. Demokratie mag Fehler haben — aber sie bietet die Chance auf Mitbestimmung, auf Respekt, auf Veränderung durch Dialog. Wer diese Chance ablehnt, der öffnet Tür und Tor für Gewalt, Spaltung und Menschenverachtung.

Deshalb ist es an uns — als Bürgerinnen und Bürger, als Gemeinschaft — wachsam zu sein: Fürchten wir nicht Labels, sondern fragen wir nach Haltung; fragen wir nach Mitmenschlichkeit, nach Gerechtigkeit, nach Respekt. Und wählen wir den Weg des Dialogs, der Vernunft und der Hoffnung — immer und überall.

2025-12-01

Freitag, 7. November 2025

Zwischen Autonomie und Abstieg

Warum die Mitte schwindet und Chancen ungleich verteilt sind

In seinem Beitrag „Finanzielle Autonomie: Die Jugend braucht finanzielle Sicherheit“ zeigt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), auf, dass junge Menschen in Deutschland – trotz allgemeinen Wohlstands – zunehmend Schwierigkeiten haben, eine unabhängige finanzielle Basis aufzubauen. DIE ZEIT

Wesentliche Punkte sind:

  • Vermögen und Rücklagen sind stark ungleich verteilt: Wer über Startkapital oder geerbtes Vermögen verfügt, hat deutlich bessere Chancen im Erwerb von Wohneigentum, bei der beruflichen Orientierung oder bei Altersvorsorge. DIE ZEIT

  • Für viele Jugendliche ist das – trotz guter Ausbildung – nicht mehr realistisch: Hohe Wohnkosten, schwieriger Erwerb von Eigenheim, unsichere Arbeitsverhältnisse und begrenzte Altersvorsorgeoptionen stehen im Weg. DIE ZEIT

  • Fratzscher formuliert eine Forderung nach einem „neuen Generationenvertrag“, in dem finanzielle Sicherheit und Autonomie als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts gelten. DIE ZEIT

  • Politisch notwendig seien konkrete Maßnahmen: Förderung von Vermögensaufbau für junge Menschen, Zugang zu Wohneigentum erleichtern, Renten- und Vorsorgesysteme stärken sowie Steuer- und Besitzstrukturen so gestalten, dass Leistung und Chancengleichheit wieder gestärkt werden. DIE ZEIT

Einschätzung und Erweiterung

Aus meiner Perspektive als Transformation Alchemist – jemand, der Wandelprozesse und Lebensübergänge begleitet – erscheint diese Debatte nicht nur als „Problem der Jugend“, sondern als Symptom einer viel größeren strukturellen Entwicklung: der Erosion der klassischen Mittelschicht und der zunehmenden Spaltung zwischen Arm und Reich.

  1. Nicht nur die Jugend ist betroffen
    Zwar richtet sich der Artikel vorrangig an die junge Generation, doch die Mechanismen, die beschrieben werden – begrenzter Zugang zu Eigentum, geringe Vermögensbildung, Abhängigkeit von Herkunft – wirken sich auch auf andere Generationen aus: Menschen mittleren Alters, die nicht früh Vermögen bilden konnten, ältere Erwerbstätige, die ungelöste Vorsorge- und Wohnfragen haben. Gerade für die Generation, die einen „Aufstieg“ erwartet hatte, aber nicht realisieren konnte, wird Autonomie gefährdet. Insofern geht es nicht allein um eine Generationenfrage („Jung vs Alt“), sondern um Klassen- und Schichtverhältnisse.

  2. Verschwinden der Mittelschicht
    Dieses Phänomen lässt sich auch in den Theorien des Thomas Piketty nachverfolgen: Er weist darauf hin, dass im System-Kapitalismus tendenziell r > g gilt – also die Rendite auf Kapital („r“) größer ist als das Wirtschaftswachstum („g“) – was langfristig zu wachsender Vermögenskonzentration führt. Wikipedia+2Wikipedia+2 In dieser Logik hat die legitime „Mitte“ zunehmend kleinere Spielräume: Wer nicht über Kapital verfügt oder in Vermögensaufbau startet, gerät ins Hintertreffen. Studien sehen eine Verdrängung der klassischen Mittelschicht durch Polarisierung – oben ein wachsender reicher Besitzstand, unten eine prekärere Situation. Medium+1
    → Wenn also die Mittelschicht „verschwinden“ sollte, dann bedeutet das eine Sozial- und Wahrnehmungsverschiebung: Nicht mehr „oben / mittendrin / unten“, sondern eher „oben“ und „unten“, mit einer immer grösser werdenden Lücke dazwischen. Und das Risiko: Gesellschaftlicher Zusammenhalt, das Vertrauen in Institutionen und das Gefühl eigener Handlungsmacht schwinden.

  3. Warum ist das relevant für Lebensübergänge und individuelle Autonomie?
    Als Transformation Alchemist sehe ich, dass finanzielle Autonomie ein elementarer Bestandteil von Lebensübergängen ist – zum Beispiel in Partnerschaft, Familiengründung, Berufswechsel oder Altersübergang. Ohne gewisse finanzielle Sicherheit geraten solche Übergänge unter Stress: Statt bewusst gestalten → Reagieren auf Zwänge. Wenn also junge Menschen, aber auch Menschen in anderen Lebensphasen, nicht über Rücklagen verfügen oder Eigentum kaum erreichbar ist, sind sie in ihrer Autonomie eingeschränkt – was wiederum psychische, soziale und kulturelle Folgen hat (z. B. weniger Mut zum Wechsel, geringere Selbstwirksamkeit).
    Die Ungleichheit wirkt also nicht nur auf ökonomische Kennzahlen, sondern auf Lebensräume und Gestaltungsmacht. Und hier liegt der Kern: Wenn die Mittelschicht schwindet, verschwindet auch der Bereich, in dem viele Menschen sich bisher verortet haben – mit dem Resultat: ein Gefühl von „wir schaffen es nicht“ oder „es gleicht sich nicht aus“.

  4. Was kann getan werden?
    Wenn wir also die Bedürfnisse nach finanzieller Autonomie ernst nehmen, braucht es mehr als punktuelle Jugend-Interventionen: Es braucht einen Wandel in Wahrnehmung, Politik und Gesellschaft. Einige Impulse:

  • Politik und Gesellschaft müssen die Mittelschicht wieder stärker in den Blick nehmen – nicht nur als „Allgemeinheit“, sondern als Stabilitätsanker, der Gestaltung und Teilhabe ermöglicht.

  • Vermögensaufbau und Eigentum müssten nicht nur für Start-Generation gedacht werden, sondern für alle Lebensphasen – etwa über Modelle von generationenübergreifendem Eigentum, kooperative Wohnformen, Altersvorsorge mit Beteiligung.

  • Steuer- und Besitz-Regeln müssen so gestaltet sein, dass nicht nur Besitzende profitieren – hier trifft Pikettys Analyse an: Wenn Renditen auf Kapital dauerhaft größer sind als das Wachstum, wird Ungleichheit strukturell verstärkt. Um das zu brechen, braucht es institutionelle Eingriffe (Steuern, Erbschaft, Eigentumszugang) und nicht nur individuelle Lösung.

  • Aber genauso wichtig: Eine Veränderung der Wahrnehmung in der Bevölkerung – weg vom Glauben „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und hin zu einer Sicht, dass gesellschaftliche Strukturen, Herkunft und Vermögen stark mitwirken. Nur wenn das erkannt wird, kann eine breite demokratische Diskussion über Gerechtigkeit, Teilhabe und Autonomie stattfinden.

Die Frage !

Wir stehen an einem Scheidepunkt: Wenn finanzielle Autonomie – und damit Teilhabe, Gestaltungskraft und Selbstwirksamkeitkünftig nur noch einer Minderheit offensteht, verlieren viele Menschen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch existenziell: Das Vertrauen in die Institutionen schwindet, Lebensübergänge werden riskanter, die Gesellschaft droht sich in „oben“ und „unten“ zu spalten.

Wie geht es weiter? 

Brauchen wir nicht eine andere Wahrnehmung in der Bevölkerung – eine, die anerkennt, dass Vermögen, Herkunft und Besitz nicht zufällig sind, sondern strukturelle Auswirkungen haben – und dass Autonomie nicht nur eine individuelle Aufgabe ist, sondern ein gesellschaftliches Versprechen? Wie schaffen wir es, dass die Mittelschicht nicht nur als Statistik-Kategorie, sondern als lebendiger Raum für Gestaltung und Teilhabe erhalten bleibt?

Quellenangabe

Fratzscher, M. (7. Nov. 2025). Finanzielle Autonomie: Die Jugend braucht finanzielle Sicherheit. In: DIE ZEIT. DIE ZEIT

2025-11-07

Sonntag, 12. Oktober 2025

Der öffentliche Verkehr in Deutschland

Eine Krise der Infrastruktur und der Verteilungsgerechtigkeit

Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) in Deutschland steht an einem kritischen Punkt. Er ist nicht nur ein Mobilitätsangebot, sondern ein zentrales Versprechen des Gemeinwesens auf Teilhabe und Klimaschutz. Die aktuellen Entwicklungen, wie sie unter anderem im Zuge der Berichterstattung über die Fahrgastzahlen sichtbar werden, zeigen jedoch, dass dieses Versprechen zunehmend brüchig wird. Die Gründe für die Stagnation und den teilweisen Rückgang der Fahrgastzahlen sind vielschichtig und reichen von akuten Infrastrukturmängeln über eine schiefgelaufene Verkehrswende bis hin zu tiefgreifenden Problemen der sozialen Ungleichheit.


Die Faktenlage: Stagnation trotz Revolution

Die Einführung des Deutschlandtickets (D-Ticket) war zweifellos eine tarifliche Revolution und führte zunächst zu einem deutlichen Fahrgastzuwachs. Dennoch zeigen Statistiken, dass der erhoffte, nachhaltige Boom abflacht. Im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 transportiert der ÖPNV insgesamt weiterhin weniger Personen – ein Indikator dafür, dass die strukturellen Probleme des Systems durch den günstigen Preis allein nicht behoben werden konnten.

Die Gründe für diese Stagnation sind oft operativer Natur:

  1. Unzuverlässigkeit und Infrastrukturmängel: Häufige Streiks, Verspätungen und marode Schienennetze führen zu Frustration und Planungsunsicherheit. Für Pendler ist das Auto bei schlechtem ÖPNV-Angebot oft die einzige verlässliche Option, um den Arbeitsplatz pünktlich zu erreichen.

  2. Angebotsmangel und Kürzungen: Trotz steigender Nachfrage, insbesondere in Ballungsräumen, müssen Verkehrsbetriebe aufgrund von Fachkräftemangel und unzureichender Finanzierung vielerorts das Angebot ausdünnen. Fahrplanreduzierungen und Taktverlängerungen (z.B. vom 10- auf den 20-Minuten-Takt) in Städten und insbesondere im ländlichen Raum zwingen Menschen förmlich zurück ins Auto.

  3. Die Preisspirale: Mit der Diskussion um eine Preisanpassung des D-Tickets (von 49 Euro auf geplante 63 Euro) droht der wichtigste Treiber für neue Fahrgäste an Attraktivität zu verlieren. Fahrgastverbände warnen zu Recht, dass dies die Nutzerzahlen erneut drücken könnte.


Das Fundament der Krise: Die Verteilungsfrage

Die Probleme des ÖPNV sind jedoch nur ein Symptom einer tiefer liegenden gesellschaftlichen Schieflage. Mobilität ist in Deutschland zunehmend eine Frage des Einkommens und der Vermögensverteilung.

Die Aussage, dass die Ungleichverteilung (gemessen am hohen Gini-Koeffizienten von über 0,8) die Spielräume der großen Masse an Menschen massiv einschränkt, trifft den Kern. Für die "unteren 95 Prozent" wird das tägliche Leben immer teurer. Die finanziellen Spielräume für Wohnen, Energie und Mobilität schrumpfen. Zwar ist das D-Ticket mit 49 Euro für viele eine Entlastung, doch selbst diese Kosten können bei einem bereits auf Kante genähten Budget eine Hürde darstellen. Hinzu kommt:


  • Der erzwungene Pkw-Besitz: Insbesondere im ländlichen Raum ist mangels attraktiver ÖPNV-Alternativen das Auto unverzichtbar. Der Unterhalt eines Pkw (Kauf, Versicherung, Steuer, Sprit) stellt für Geringverdiener eine existenzielle Belastung dar, von der sie aber nicht entbunden werden können, da ansonsten die Teilhabe am Arbeitsmarkt oder am gesellschaftlichen Leben wegbricht.

  • Fehlende Mittel trotz Aufforderung zur Mehrarbeit: Während von der breiten Bevölkerung "mehr Arbeit" gefordert wird, steigen die Reallöhne kaum und öffentliche Gelder fließen oft nicht in eine allgemeine Verbesserung der Lebensqualität (wie besseren ÖPNV), sondern werden durch Steuergeschenke oder Subventionen primär Vermögenden oder systemrelevanten, aber schlecht gemanagten Großkonzernen zur Verfügung gestellt. Dieses Ungleichgewicht untergräbt das Vertrauen in die staatliche Verteilungs- und Gerechtigkeitsfunktion, wie sie im Grundgesetz verankert ist.



Die Verkehrswende als soziale Scheidewand

Die von der Politik propagierte Verkehrswende hat diesen Verteilungskonflikt verschärft. Die Konzentration auf die Förderung von E-Autos (als Symbol der schiefgelaufenen Verkehrswende) mag klimapolitisch motiviert sein, ist aber sozial exklusiv.

Das E-Auto ist primär für die wohlhabenderen Schichten zugänglich – jene "oberen 2 bis 5 Prozent", die ohnehin über die notwendigen Ressourcen verfügen, um die teure Anschaffung und die entsprechende Ladeinfrastruktur zu finanzieren. Für die breite Bevölkerung, die auf bezahlbare und zuverlässige Mobilität angewiesen ist, bietet die E-Auto-Strategie kaum Entlastung.

Eine gerechte und erfolgreiche Verkehrswende müsste den ÖPNV zur attraktiven, dominanten und verlässlichen Alternative machen. Stattdessen werden die Verkehrsbetriebe mit unzureichenden Regionalisierungsmitteln und chronischen Investitionsstaus bei der Infrastruktur im Stich gelassen. Der ÖPNV wird so zu einem Rückzugsort derjenigen, die sich kein Auto leisten können, anstatt zur bevorzugten Wahl derer, die sich das Auto sparen wollen.

Die Krise des öffentlichen Verkehrs in Deutschland ist daher mehr als ein logistisches Problem. Sie ist ein Spiegelbild einer gescheiterten Verteilungspolitik, die das Gemeinwesen und seine Infrastruktur systematisch schwächt und die Kluft zwischen Arm und Reich auch auf der Straße sichtbar macht. Nur eine massive, dauerhafte und sozial gerechte Investition in das öffentliche Netz, verbunden mit der Garantie einer minimalen Grundmobilität für alle Bürgerinnen und Bürger, kann das Vertrauensverhältnis zum Gemeinwesen wiederherstellen und die Verkehrswende zum Erfolg führen.

Nachlesen : https://www.zeit.de/mobilitaet/2025-10/weniger-personen-oeffentlicher-nahverkehr

2025-10-12


Samstag, 11. Oktober 2025

Die Krise der Prioritäten - Wenn Moral die Vernunft ersetzt

In der Bundesrepublik herrscht eine tiefgreifende Vertrauens- und Effektivitätskrise. Das zentrale Problem ist die gewaltige Verdrängung des Pragmatismus durch den Moralismus in Politik und öffentlicher Debatte, was rationale Vernunft durch emotionale Gefühligkeit ersetzt.

Die Folge ist eine Lähmung des Diskurses: Moralische Besserwisserei führt zur Verengung des Meinungskorridors und zur Selbstzensur. Wer nicht dem Mainstream folgt, landet am medialen Pranger. Diese empfundene Meinungsunterdrückung und Missgunst werden von tendenziell extremistischen und rechtsgerichteten Akteuren gezielt geschürt und instrumentalisiert, um die gesellschaftliche Spaltung voranzutreiben und die Unzufriedenheit in rechte politische Ziele umzumünzen. 

Dieses Klima erstickt die Innovationskraft und verhindert, dass neue Ideen überhaupt zu Ende gedacht werden.

Auf politischer Ebene verhindert ideologische Politik seit Jahren pragmatische Lösungen in entscheidenden Bereichen. In der Energiewende überschattet der moralische Imperativ die technische und volkswirtschaftliche Machbarkeit (z. B. fehlende Alternativen zur Grundlast). In der Migration und den Sozialsystemen verhindern ideologisch begründete Ablehnungen von Grenzwerten eine effektive Integration und überlasten die Infrastruktur. Die eigentlichen, existentiellen Probleme bleiben somit liegen.

Besonders alarmierend ist die Prioritätensetzung der jungen Generation: Identitätsfragen und Gendersprache werden als wichtiger erachtet als Ingenieurserfindungen. Trotz proklamierter Diversität führt diese Fokussierung auf die eigene "Gefühligkeit" zu Engstirnigkeit und Risikoscheu. Dies ist fatal für eine Industrienation, deren Wohlstand auf Technologie und Innovationsgeist beruht.

Um die Schieflage zu korrigieren, muss Deutschland zu einer Kultur des Pragmatismus und der rationalen Vernunft zurückkehren. Der öffentliche Raum muss wieder sicher für unpopuläre, aber lösungsorientierte Ideen werden. Nur durch die Abkehr vom reinen Haltungsdiskurs kann die Mutlosigkeit überwunden und die Innovationsfreude zur Bewältigung der tatsächlichen Probleme freigesetzt werden.

Ein System - das den Menschen aus den Augen verloren hat

Deutschland steht vor einem Problem, das nicht nur strukturell, sondern tief kulturell verankert ist.  Es betrifft die Art, wie Verwaltung, ...