Deutschland steht vor einem Problem, das nicht nur strukturell,
sondern tief kulturell verankert ist.
Es betrifft die Art, wie Verwaltung, Bürokratie und politische Entscheidungen miteinander verwoben sind zu einem Geflecht, das den Alltag der Menschen durchdringt – insbesondere dort, wo sie am verletzlichsten sind. Die eigentlich kleinen Dinge, jene Details, mit denen Bürgerinnen und Bürger täglich konfrontiert werden, wurden im Lauf der Zeit in eine „Governance“ gegossen, die mehr Last als Ordnung darstellt. Aus Regelung wurde Überregulierung, aus Orientierung eine Art von technokratischer Überforderung.
Das zentrale Paradox: Gerade denjenigen, die ohnehin wenig haben, wird der größte Präzisionsdruck auferlegt. Im Bereich des Bürgergelds etwa wird in Centbeträgen gerechnet, als ginge es um die Feinjustierung eines milliardenschweren Konzerns. Ein kleines Fehlverhalten, ein vergessener Termin, eine unachtsame Meldung – all das kann bereits existenzielle Sanktionen auslösen.
Und genau das, was das System ihnen selbst aufzwingt – Orientierungslosigkeit, Überforderung, das Gefühl, nichts mehr „geregelt“ zu bekommen – wird anschließend moralisch gegen sie verwendet. Es entsteht ein Kreislauf der Schuldzuweisung, der Menschen stigmatisiert, entmutigt und alle Möglichkeiten entzieht.
Im Großen jedoch herrscht eine andere Logik. Dort, wo es um Millionen und Milliarden geht, wo Fehler oder Vergehen das Gemeinwesen wirklich erschüttern könnten, verschwinden Verantwortlichkeiten im Nebel. Große Finanzskandale enden oft ohne nennenswerte Konsequenzen. Behörden, die zu genau hinsehen wollen, werden ausgebremst oder verlieren Personal. Was im Kleinen pedantisch verfolgt wird, wird im Großen als „systemrelevant“ unter den Teppich gekehrt. Die Asymmetrie könnte kaum größer sein: Während digitale Überwachungssysteme installiert werden, um jeden 5-Euro-Vorteil im Alltag der Bedürftigsten zu sanktionieren, bleibt der Milliardenbereich ein Terrain, in dem diffuse Zuständigkeiten und politisches Desinteresse Realitäten schaffen.
Diese strukturelle Schieflage ist mehr als nur ein verwaltungstechnisches Problem. Sie ist Ausdruck eines kulturellen Verlusts: des Verlusts eines menschenzentrierten Denkens. Das Ideal, Verwaltung solle den Bürgern dienen, wurde ersetzt durch eine Logik, in der Bürger zu Objekten, zu Risiken, zu zu überwachenden Einheiten werden. Man begegnet ihnen mit Misstrauen, während man großen Akteuren mit Wohlwollen und Nachsicht begegnet, als seien ihre Fehler weniger moralisch oder weniger zerstörerisch.
Ein System, das Menschen an seiner Basis bricht,
bricht am Ende sich selbst.
Gerade jene, die heute von übermächtigen Strukturen profitieren oder sich mit Milliarden begünstigt fühlen, sitzen letztlich auf demselben bröckelnden Fundament. Eine Gesellschaft kann nicht stabil bleiben, wenn sie Gerechtigkeit nur nach oben relativiert und nach unten maximal durchsetzt. Die Schieflage wird irgendwann auch jene erfassen, die sich jetzt im Schutz der wirtschaftlichen und politischen Macht wähnen.
Wenn wir diesen Trend nicht erkennen und korrigieren,
verlieren wir nicht nur Gerechtigkeit,
sondern auch Menschlichkeit, Vertrauen
und den inneren Zusammenhalt.
Die Verhältnismäßigkeit muss zurückkehren: im Handeln der Behörden, in der politischen Gestaltung, in den moralischen Maßstäben, die wir anwenden. Der Mensch muss wieder Ausgangspunkt und Zielpunkt sein – nicht eine abstrakte Governance, die nur noch sich selbst verwaltet.
Die Krise liegt nicht im Mangel an Regeln, sondern im Verlust des Maßes. Und Maß entsteht erst dort, wo man wieder hinsieht: auf die Lebensrealitäten der Menschen, auf das Verhältnis von Verantwortung und Macht, auf die Frage, was eine gerechte Gesellschaft im Kern zusammenhält. Solange wir das nicht tun, geraten wir weiter aus den Fugen – und reißen jene mit, die glauben, unerschütterlich über allem zu stehen.
2025-12-03