Warum die Mitte schwindet und Chancen ungleich verteilt sind
In seinem Beitrag „Finanzielle Autonomie: Die Jugend braucht finanzielle Sicherheit“ zeigt Marcel Fratzscher, Präsident des Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), auf, dass junge Menschen in Deutschland – trotz allgemeinen Wohlstands – zunehmend Schwierigkeiten haben, eine unabhängige finanzielle Basis aufzubauen. DIE ZEIT
Wesentliche Punkte sind:
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Vermögen und Rücklagen sind stark ungleich verteilt: Wer über Startkapital oder geerbtes Vermögen verfügt, hat deutlich bessere Chancen im Erwerb von Wohneigentum, bei der beruflichen Orientierung oder bei Altersvorsorge. DIE ZEIT
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Für viele Jugendliche ist das – trotz guter Ausbildung – nicht mehr realistisch: Hohe Wohnkosten, schwieriger Erwerb von Eigenheim, unsichere Arbeitsverhältnisse und begrenzte Altersvorsorgeoptionen stehen im Weg. DIE ZEIT
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Fratzscher formuliert eine Forderung nach einem „neuen Generationenvertrag“, in dem finanzielle Sicherheit und Autonomie als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenhalts gelten. DIE ZEIT
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Politisch notwendig seien konkrete Maßnahmen: Förderung von Vermögensaufbau für junge Menschen, Zugang zu Wohneigentum erleichtern, Renten- und Vorsorgesysteme stärken sowie Steuer- und Besitzstrukturen so gestalten, dass Leistung und Chancengleichheit wieder gestärkt werden. DIE ZEIT
Einschätzung und Erweiterung
Aus meiner Perspektive als Transformation Alchemist – jemand, der Wandelprozesse und Lebensübergänge begleitet – erscheint diese Debatte nicht nur als „Problem der Jugend“, sondern als Symptom einer viel größeren strukturellen Entwicklung: der Erosion der klassischen Mittelschicht und der zunehmenden Spaltung zwischen Arm und Reich.
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Nicht nur die Jugend ist betroffen
Zwar richtet sich der Artikel vorrangig an die junge Generation, doch die Mechanismen, die beschrieben werden – begrenzter Zugang zu Eigentum, geringe Vermögensbildung, Abhängigkeit von Herkunft – wirken sich auch auf andere Generationen aus: Menschen mittleren Alters, die nicht früh Vermögen bilden konnten, ältere Erwerbstätige, die ungelöste Vorsorge- und Wohnfragen haben. Gerade für die Generation, die einen „Aufstieg“ erwartet hatte, aber nicht realisieren konnte, wird Autonomie gefährdet. Insofern geht es nicht allein um eine Generationenfrage („Jung vs Alt“), sondern um Klassen- und Schichtverhältnisse. -
Verschwinden der Mittelschicht
Dieses Phänomen lässt sich auch in den Theorien des Thomas Piketty nachverfolgen: Er weist darauf hin, dass im System-Kapitalismus tendenziell r > g gilt – also die Rendite auf Kapital („r“) größer ist als das Wirtschaftswachstum („g“) – was langfristig zu wachsender Vermögenskonzentration führt. Wikipedia+2Wikipedia+2 In dieser Logik hat die legitime „Mitte“ zunehmend kleinere Spielräume: Wer nicht über Kapital verfügt oder in Vermögensaufbau startet, gerät ins Hintertreffen. Studien sehen eine Verdrängung der klassischen Mittelschicht durch Polarisierung – oben ein wachsender reicher Besitzstand, unten eine prekärere Situation. Medium+1
→ Wenn also die Mittelschicht „verschwinden“ sollte, dann bedeutet das eine Sozial- und Wahrnehmungsverschiebung: Nicht mehr „oben / mittendrin / unten“, sondern eher „oben“ und „unten“, mit einer immer grösser werdenden Lücke dazwischen. Und das Risiko: Gesellschaftlicher Zusammenhalt, das Vertrauen in Institutionen und das Gefühl eigener Handlungsmacht schwinden. -
Warum ist das relevant für Lebensübergänge und individuelle Autonomie?
Als Transformation Alchemist sehe ich, dass finanzielle Autonomie ein elementarer Bestandteil von Lebensübergängen ist – zum Beispiel in Partnerschaft, Familiengründung, Berufswechsel oder Altersübergang. Ohne gewisse finanzielle Sicherheit geraten solche Übergänge unter Stress: Statt bewusst gestalten → Reagieren auf Zwänge. Wenn also junge Menschen, aber auch Menschen in anderen Lebensphasen, nicht über Rücklagen verfügen oder Eigentum kaum erreichbar ist, sind sie in ihrer Autonomie eingeschränkt – was wiederum psychische, soziale und kulturelle Folgen hat (z. B. weniger Mut zum Wechsel, geringere Selbstwirksamkeit).
Die Ungleichheit wirkt also nicht nur auf ökonomische Kennzahlen, sondern auf Lebensräume und Gestaltungsmacht. Und hier liegt der Kern: Wenn die Mittelschicht schwindet, verschwindet auch der Bereich, in dem viele Menschen sich bisher verortet haben – mit dem Resultat: ein Gefühl von „wir schaffen es nicht“ oder „es gleicht sich nicht aus“. -
Was kann getan werden?
Wenn wir also die Bedürfnisse nach finanzieller Autonomie ernst nehmen, braucht es mehr als punktuelle Jugend-Interventionen: Es braucht einen Wandel in Wahrnehmung, Politik und Gesellschaft. Einige Impulse:
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Politik und Gesellschaft müssen die Mittelschicht wieder stärker in den Blick nehmen – nicht nur als „Allgemeinheit“, sondern als Stabilitätsanker, der Gestaltung und Teilhabe ermöglicht.
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Vermögensaufbau und Eigentum müssten nicht nur für Start-Generation gedacht werden, sondern für alle Lebensphasen – etwa über Modelle von generationenübergreifendem Eigentum, kooperative Wohnformen, Altersvorsorge mit Beteiligung.
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Steuer- und Besitz-Regeln müssen so gestaltet sein, dass nicht nur Besitzende profitieren – hier trifft Pikettys Analyse an: Wenn Renditen auf Kapital dauerhaft größer sind als das Wachstum, wird Ungleichheit strukturell verstärkt. Um das zu brechen, braucht es institutionelle Eingriffe (Steuern, Erbschaft, Eigentumszugang) und nicht nur individuelle Lösung.
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Aber genauso wichtig: Eine Veränderung der Wahrnehmung in der Bevölkerung – weg vom Glauben „Jeder ist seines Glückes Schmied“ und hin zu einer Sicht, dass gesellschaftliche Strukturen, Herkunft und Vermögen stark mitwirken. Nur wenn das erkannt wird, kann eine breite demokratische Diskussion über Gerechtigkeit, Teilhabe und Autonomie stattfinden.
Die Frage !
Wir stehen an einem Scheidepunkt: Wenn finanzielle Autonomie – und damit Teilhabe, Gestaltungskraft und Selbstwirksamkeit – künftig nur noch einer Minderheit offensteht, verlieren viele Menschen nicht nur wirtschaftlich, sondern auch existenziell: Das Vertrauen in die Institutionen schwindet, Lebensübergänge werden riskanter, die Gesellschaft droht sich in „oben“ und „unten“ zu spalten.
Wie geht es weiter?
Brauchen wir nicht eine andere Wahrnehmung in der Bevölkerung – eine, die anerkennt, dass Vermögen, Herkunft und Besitz nicht zufällig sind, sondern strukturelle Auswirkungen haben – und dass Autonomie nicht nur eine individuelle Aufgabe ist, sondern ein gesellschaftliches Versprechen? Wie schaffen wir es, dass die Mittelschicht nicht nur als Statistik-Kategorie, sondern als lebendiger Raum für Gestaltung und Teilhabe erhalten bleibt?
Quellenangabe
Fratzscher, M. (7. Nov. 2025). Finanzielle Autonomie: Die Jugend braucht finanzielle Sicherheit. In: DIE ZEIT. DIE ZEIT
2025-11-07